Jeder zählt!
Alarm im Wilden Wald von Wilhelmsburg
Ein Wald in Wilhelmsburg?
Das ist häufig die erste Frage, wenn ich von meinem Engagement für den Wilden Wald erzähle. Ja, nördlich des Reiherstiegviertels direkt am Spreehafen liegen 10 Hektar wilde Natur. Wo die Georg-Wilhelm-Straße über den Ernst-August-Kanal führt sind gelbe Holzkreuze in den Bäumen zu sehen. Hinweisschilder erklären: „Das ist ein Wald, kein Baugebiet“. Ja klar, werden wohl die meisten denken, wenn sie den Uferweg am Kanal entlang gehen. Große Bäume und dichtes Unterholz schirmen die Spaziergänger*innen hier vom Lärm der Großstadt ab. Und hier soll gebaut werden? Ja, der Bezirk Mitte plant auf dem Gebiet des Wilden Waldes das sog. Spreehafenviertel. Es sollen 1.100 Wohnungen, 35.000 m² Gewerbefläche und neue Sportanlagen entstehen. Doch es regt sich zunehmend Widerstand durch Anwohnende und Umweltschützer*innen. Seit 2017 wurden erste Ideen für das sog. Spreehafenviertel bekannt. Sofort gründete sich eine Bürger*inneninitiative, die sich seitdem für den Erhalt des Waldes einsetzt, die Waldretter*innen. Gemeinsam mit ihnen kämpfen seit 4 Jahren auch die WiWa Aktivistis gegen die drohende Zerstörung des Waldes.
Der Wilde Wald hat eine bewegte Entstehungsgeschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg befanden sich auf dem Gebiet Kleingärten mit Lauben und Hütten. Da nach dem Krieg viele Wohnungen zerstört waren, lebten bis in die 1960er Jahre viele Menschen in den Gärten. Als 1962 die Große Flut Hamburg überschwemmte, brach auch der angrenzende Deich des Spreehafens. Viele Bewohner*innen der Gärten ertranken oder retteten sich auf Bäume, wo viele von ihnen erfroren. Nach der Katastrophe wurde der Ort sich selbst überlassen und so entstand der Wilde Wald. Bis heute sind im Unterholz Reste der alten Fundamente oder Fußböden zu finden. Der Wilde Wald wurde nicht angepflanzt und nicht gepflegt, er ist wild gewachsen. Heute sind die ersten Pioniergehölze, Weiden und Birken, alt und es wachsen langlebigere Arten wie Eichen und Ahorn nach. Unzählige Pflanzen, Tiere und Pilze leben hier, darunter viele besonders geschützte Vögel, 4 gefährdete Fledermausarten sowie 16 geschützte Libellenarten. Besonders das dichte Unterholz und das Totholz, dass am Boden liegen bleibt, machen den Wald zu einem unvergleichlich wertvollen Biotop. Aber auch Menschen nutzen den Wilden Wald, Anwohner*innen spazieren hier oder treffen sich, um gemeinsam ihren Feierabend zu verbringen. Und es sind auch immer wieder Zelte zu sehen. Menschen ohne Wohnsitz finden im Wilden Wald einen ruhigeren, geschützteren Ort.
Wohnungsbau vs. Naturschutz und Umweltgerechtigkeit
Der häufigste Vorwurf, mit dem Waldretter*innen und Aktivistis konfrontiert werden, ist: ihr seid gegen Wohnungsbau, ihr verhindert, dass Leute eine bezahlbare Wohnung finden. Immer wieder wird, von verschiedenen Seiten, der Neubau von Wohnungen gegen die Erhaltung von Naturflächen ausgespielt, als sei nur das eine oder das andere möglich. Dabei besteht in Hamburg kein Flächenmangel, sondern die Mieten sind zu hoch. Auch in Hamburg gibt es Wohnungen, die aus vielfältigen Gründen nicht bewohnt sind, und sehr viele Zweitwohnungen stehen überwiegend leer. Das Mietenproblem wird nicht dadurch gelöst, dass immer mehr Wohnungen neu gebaut werden. Seit Jahren versucht die Politik den Wohnungsmarkt dadurch zu „entspannen“, aber die Mieten steigen weiter. Nicht die fehlenden Flächen sind das Problem, sondern der gewinnorientierte Markt. Im sog. Spreehafenviertel sollen die Hälfte der Wohnungen öffentlich gefördert werden, die jeweilige Laufzeit der Sozialbindung ist jedoch unklar. Und gemeint ist die Hälfte der Wohneinheiten, nicht der Fläche. Es ist also zu erwarten, dass es kleine Sozialwohnungen und große Eigentumswohnungen geben wird. Um die Mieten zu senken, muss Leerstand von Wohnraum wirksam sanktioniert und Wohnraum gemeinwohlorientiert verwaltet werden, öffentlich oder von Genossenschaften, die nicht gewinnorientiert sind. Und auch für neuen Wohnraum stehen Flächen zur Verfügung, ohne Natur zu zerstören: leerstehende Büros können umgebaut, leerstehende, bereits versiegelte Gewerbe- und Industrieflächen neu bebaut werden und über Parkplätzen oder eingeschossigen Supermärkten stehen ebenfalls große Flächen zur Verfügung. Das Bündnis WiWa bleibt! fordert, bezahlbaren Wohnraum für alle zu schaffen, ohne dafür Naturflächen zu vernichten.
Natur in der Großstadt ist für alle Bewohner*innen genauso wichtig, wie eine bezahlbare Wohnung. Die Klimakrise spitzt sich immer weiter zu, die Sommerhitze in Großstädten wird zunehmend zu gesundheitlichen Folgen und Todesfällen führen. Alte Bäume senken die Hitze in ihrer Umgebung erheblich, außerdem filtern sie Schadstoffe aus der Luft und dämpfen den Lärm. Der Wilde Wald ist essentiell für die Kühlung und das Mikroklima der angrenzenden Wohnviertel und mindert die Schadstoff- und Lärmbelastung des Hafens. Das können die vorgesehenen Ausgleichsflächen nicht. Auch für den Wilden Wald sind, im Falle einer Bebauung, die gesetzlich vorgeschriebenen Ausgleichsmaßnahmen vorgesehen. Das Prinzip hiervon wird von Umweltschützer*innen jedoch grundlegend kritisiert. In diesem Fall sind Ausgleichsflächen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein in bis zu 40 Kilometer Entfernung vorgesehen. Diese können keinen Einfluss auf das Mikroklima in Wilhelmsburg haben. Davon abgesehen werden dort auch keine Flächen entsiegelt, sondern Wiesen und Felder, teilweise sogar bereits bewaldete Gebiete, zu Ausgleichsflächen erklärt. Die neu versiegelten Flächen im sog. Spreehafenviertel würden also nicht durch Entsiegelung anderswo aufgewogen, sondern in Summe sind am Ende 10 Hektar mehr versiegelt, als vorher. Außerdem wird der Aspekt der Umweltgerechtigkeit hierbei gar nicht beachtet. Jeder Mensch hat nicht nur das Grundrecht auf Wohnraum, sondern auch auf einen Lebensraum, der seine Gesundheit fördert, anstatt ihr zu schaden. Neben den positiven Auswirkungen der Stadtnatur auf angrenzende Wohngebiete trägt der Aufenthalt in der Natur zur Stressreduktion und damit zur Gesundheit bei. Die Anwohnenden in Wilhelmsburg verfügen überwiegend nicht über die finanziellen Mittel, weitere Ausflüge und Urlaube zu unternehmen. Sie sind auf die Natur in ihrem Umfeld angewiesen.
Kann der Wilde Wald gerettet werden?
Bisher ist der Bebauungsplan Wilhelmsburg 102 für das sog. Spreehafenviertel noch nicht beschlossen, die Zerstörung des Waldes kann noch abgewendet werden. Das Bezirksamt Mitte hat die Öffentliche Planauslegung, einen gesetzlich vorgeschriebenen Schritt der Öffentlichkeitsbeteiligung, für kommendes Jahr angekündigt. Hierbei werden die Pläne im Bezirksamt sowie online einsehbar sein und jeder Mensch kann Einwände dagegen einbringen, die abgewogen und eingearbeitet werden müssen. Praktisch handelt es sich um „Akzeptanzmanagement“, bei dem die Wünsche und Anregungen der Bürger*innen abgewiegelt werden. Das Bündnis WiWa bleibt! will alle Mittel nutzen, um die Verabschiedung des Bebauungsplans zu verhindern, im Zweifel dagegen klagen und den Wald mit direkten Aktionen verteidigen.
Auch der Protest für den Wilden Wald hat mittlerweile eine Geschichte. Sie begann 2019 mit dem ersten Baumhaus, das Wilde Gasse genannt wurde. Es wurde sofort von der Polizei umstellt und die Besetzer*innen harrten drei Tage frierend und hungernd auf den Bäumen aus bis sie von Polizist*innen „zu ihrer eigenen Sicherheit“ herunter geholt wurden. Tatsächlich gefährdeten die Einsatzkräfte dabei das Leben der Besetzer*innen. 2020 entstanden zwei weitere Baumhäuser, wovon eins über Nacht verschwand, wahrscheinlich im Auftrag der Stadt. Die andere Plattform bauten Aktivist*innen nach 3 Jahren selbst wieder ab, um die Pappel zu schonen. Seit 2023 gibt es nun das vierte Baumhaus im Wilden Wald, in der gleichen Eiche wie damals Wilde Gasse. Da das neue Baumhaus bei der Versammlungsbehörde als Kundgabemittel angemeldet ist, wird es Brave Gasse genannt. Es ist vom Fußgängerweg am Kanal zu sehen, mit Bannern geschmückt und Ausdruck des anhaltenden und nachdrücklichen Protestes für den Erhalt des Wilden Waldes. Diesen Herbst veranstalteten die WiWa Aktivistis bereits zum dritten mal ein Protestcamp auf der Lichtung des Walde, um zum Beginn der Rodungssaison auf die drohende Zerstörung des Wilden Waldes aufmerksam zu machen. Von Anfang Oktober bis Ende Februar dürfen Bäume gefällt werden. In Vorträgen und Workshops wurde über den Wald und ähnliche Themen informiert und beim täglichen Abendessen für alle Kontakte geknüpft. Doch dieses Jahr wurde es während der Vorbereitungen im Sommer plötzlich ernst, ein Teilstück des Wilden Waldes könnte in diesem Winter gerodet werden. Auf dem Programm des diesjährigen Protestcamps standen Baumklettern, Aktionsbriefings und Gesprächsrunden zu Themen wie: Wie überstehen wir die Rodungssaison.
Was passiert diesen Winter?
Die Tiefbaufirma am östlichen Waldrand an der Schlenzigstraße hat Rodungsantrag für 800 m² des Waldes gestellt. Für das sog. Spreehafenviertel benötigt die Stadt eine Ecke von deren jetzigem Betriebsgelände, um die neuen Sportanlagen dort anzuordnen. Im Gegenzug erhält die Firma eine andere, größere Ecke, angrenzend an ihr jetziges Grundstück. Auf diesen 800 m² wächst Wald, der für die Erweiterung des Betriebsgeländes zerstört werden soll. Das ist ein Vorgriff auf den neuen, bisher noch gar nicht verabschiedeten Bebauungsplan, denn ohne die neuen Sportanlagen im Zuge des sog. Spreehafenviertels wäre der Grundstückstausch nicht notwendig. Die Tiefbaufirma möchte jedoch nicht mehr warten, denn ihr Betrieb sei so stark gewachsen und sie bräuchten mehr Platz, so steht es im Bauantrag. Dieser Bauantrag bezieht sich auf den alten, bis heute gültigen Bebauungsplan von 1968, nachdem dort Industriefläche sein soll. Dieser Bebauungsplan ist jedoch älter als der Wald selber, sechs Jahre nach der Sturmflut wird hier eine bewachsene Brachfläche gewesen sein. Ob der Bauantrag auf dieser Grundlage gestellt werden darf, während der neue Bebauungsplan in Bearbeitung ist, ist rechtlich unklar. Die Bürger*inneninitiative berät mit Umweltverbänden dagegen zu klagen. Die WiWa Aktivistis bereiten sich derweil darauf vor, alle Rodungsarbeiten im Wilden Wald mit direktem Protest vor und im Wald zu blockieren. Das Bündnis WiWa bleibt! ruft alle Menschen aus Wilhelmsburg, Hamburg und von überall auf, sich dem Protest anzuschließen und gemeinsam den Wilden Wald zu verteidigen.